Offener Brief: BVRD.at fordert Ausbildung für Sanitäter:innen, die Berufsschutz ermöglicht

Linz, 24. Mai 2022

OFFENER BRIEF

Sehr geehrte Bundesregierung, sehr geehrter Herr Gesundheitsminister Rauch,

ein aktuelles Urteil durch den OGH löst in den Reihen der österreichischen Sanitäter:innen großes Unbehagen und Frustration aus. Der Entscheid 10ObS32/22m vom 29. März 2022 zeigt eine grundlegende Problematik im österreichischen Rettungswesen und des SanG im Speziellen auf.

Ein Sanitäter, der seit 1990 bei der Berufsrettung Wien angestellt ist und seit 2003 die qualifizierte Tätigkeit als Notfallsanitäter im Sinne des Sanitätergesetzes (SanG 2002) ausübte, kann dieser Beschäftigung seit Februar 2020 aufgrund gesundheitlicher Probleme nicht mehr nachgehen. Ein Anspruch auf eine Berufsunfähigkeitspension wurde ihm verwehrt.

Was will uns der Gesetzgeber damit sagen, wenn all jenen, die für rasche notfallmedizinische Hilfe stets zur Stelle sind, das Erlangen jenes Ausbildungsstands verwehrt bleibt, um einen Berufsschutz zu erlangen, der für alle anderen im Gesundheitswesen völlig selbstverständlich ist?

Die Problematik liegt darin, dass man selbst mit der höchsten gesetzlich vorgesehenen Qualifikation für Sanitäter:innen im Sinne des SanG (Notfallsanitäter mit der besonderen Notfallkompetenz Intubation) lediglich auf 980 Ausbildungsstunden kommt, was gemäß dem aktuellen Urteil des OGH zu wenig ist, um im Falle einer schicksalhaften Arbeitsunfähigkeit Berufsschutz zu genießen.

Worauf der BVRD.at (siehe Positionspapier) seit Jahren aufmerksam macht, ist in diesem Urteil des OGH einmal mehr bestätigt. Wir sehen hier den dringenden Bedarf einer grundlegenden Neustrukturierung der Ausbildung von Sanitäter:innen in Österreich nach internationalem Vorbild.

Mit Verweis auf einige Feststellungen aus dem Urteil, dürfen wir dies hier weiter ausführen:

„Das Erstgericht wies die Klage ab. Der Kläger habe ungelernte Arbeitertätigkeiten verrichtet, sodass er auf den gesamten Arbeitsmarkt verweisbar und somit nicht berufsunfähig sei.“
In der Pandemie waren Sanitäter:innen die ersten, die bei Patient:innen mit Atemnot und Fieber in deren hochkontagiösen Wohnungen mit zu Beginn häufig vollkommen unzureichender Schutzausrüstung eintrafen, die notfallmedizinische Versorgung starteten und auf COVID-Stationen verbrachten.
Sanitäter:innen operieren regelmäßig in einer äußerst feindseligen Arbeitsumgebung, bringen Patient:innen aus Situationen heraus, wo wirbelsäulenschonendes Heben schlichtweg unmöglich ist, tragen schwere Ausrüstung über mehrere Stockwerke, stehen häufig psychisch unter großem Druck und treffen, abhängig vom jeweiligen Einsatzszenario, Entscheidungen, welche sich direkt auf die Dauer der stationären Behandlung, sowie der Rehabilitation und ganz allgemein gesprochen den weiteren Genesungsverlauf der Patient:innen auswirken. Und ausgerechnet dieser Berufsgruppe wird der Berufsschutz verwehrt? Hier muss jetzt ein Umdenken stattfinden! Wir fordern eine rasche vollständige Reform des Sanitätergesetzes inklusive einer Aufwertung und Professionalisierung im Sinner einer Akademisierung für den Beruf der Notfallsanitäter:innen! Das sind wir neben den täglich hart arbeitenden Sanitäter:innen, vor allem unseren Patient:innen schuldig.

„Beim – in §10 SanG beschriebenen – Tätigkeitsbereich des Klägers als Notfallsanitäter stehen vielmehr manuelle Arbeiten und den Notarzt unterstützende Tätigkeiten im Vordergrund“.
Unzählige Einsätze werden tagtäglich ohne dem Beisein von Notärzt:innen professionell und unter sorgfältiger Berücksichtigung der Patient:innensicherheit abgearbeitet. Das Tätigkeitsprofil des Notfallsanitäters inkl. der laut SanG vorgesehenen Notfallkompetenzen erstreckt sich bereits jetzt vom eigenverantwortlichen Legen peripherer Venenzugänge, der Gabe von Sauerstoff und diverser Pharmaka über verschiedene Applikationswege (intravenös, intramuskulär, intranasal, etc.) bis hin zur prämedikationsfreien endotrachealen Intubation und Beatmung. Die Anforderungen an diesen Tätigkeitsbereich werden auch in Zukunft in Anbetracht der demografischen Entwicklungen weiter steigen, nicht zuletzt auf Grund des zunehmenden Notärzt:innen-Mangels.

„Der klagende Sanitäter steht auf dem Standpunkt, dass seine Tätigkeit als Notfallsanitäter als Angestelltentätigkeit in Form der Verrichtung höherer, nicht kaufmännischer Dienste anzusehen sei.“
„Dafür werden nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs eine größere Selbstständigkeit und Denkfähigkeit, höhere Intelligenz, Genauigkeit und Verlässlichkeit sowie die Fähigkeit der Beurteilung der Arbeit anderer, Aufsichtsbefugnis, sowie überwiegend nicht manuelle Arbeiten und gewisse Einsicht in den Produktionsprozess (Arbeitsablauf) gefordert, ..“
Notfallsanitäter:innen mit entsprechender Notfallkompetenz müssen in der Lage sein, bei multimorbiden Patient:innen den Fokus auf die Hauptbeschwerde zu richten, eine Reihe an Differentialdiagnosen miteinzubeziehen und somit individuell für jede/n die wegweisende Richtung für die weitere medizinische Versorgung einzuschlagen, sowie eigenverantwortlich Medikamentendosierungen für hochkritisch erkrankte und verletzte Patient:innen auszurechnen. Ihnen dabei Selbständigkeit und Denkfähigkeit, höhere Intelligenz, Genauigkeit und Verlässlichkeit abzusprechen, ist ein Schlag ins Gesicht für alle jene, die sich Tag für Tag für das Patient:innenwohl einsetzen.

Im europäischen bzw. internationalen Vergleich bewegt sich Österreich in der Ausbildungsdauer von Sanitäter:innen am absoluten Minimum. Während hierzulande andere Gesundheitsberufe (Pflege, Hebammen, Therapieberufe, etc.) in den letzten Jahren eine weitere Professionalisierung durch Akademisierung erfahren durften, begnügt man sich als Ausbildungsstandard für die medizinisch hauptverantwortliche Person eines Rettungswagens in den meisten Teilen Österreichs nach wie vor mit einem 260-stündigen Kurs (Rettungssanitäter:innen mit 100 Stunden Theorie und 160 Stunden Rettungsdienstpraktikum, was in Summe 2,5 Wochen Kurs und 14 Diensten entspricht). Auch Notfallsanitäter:innen mit den modular aufgebauten Notfallkompetenzen kommen in der höchsten Ausbildungsstufe, die den wenigsten in diesem Land vorbehalten ist, auf insgesamt lediglich 980 Stunden Ausbildung. Dabei ist jedoch hinzuzufügen, dass in den meisten Bundesländern regelhaft Rettungssanitäter:innen für die (Erst-) Versorgung von Notfallpatient:innen eingesetzt und die wenigsten Mitarbeiter:innen in den Notfallkompetenzen ausgebildet werden.

In einem großen Teil der europäischen und internationalen Länder ist akademisches Fachpersonal im operativen Rettungsdienst und somit die Rettungswissenschaften seit Jahren ein integraler Teil des Gesundheitssystems. Wie sich eine Rettungswissenschaft im deutschsprachigen Bereich definieren kann, haben Kolleg:innen der Deutschen Gesellschaft für Rettungswissenschaften (DGRe) formuliert:

„Wir verstehen die Rettungswissenschaft als Berufswissenschaft für die Tätigkeit von Notfallsanitäter*innen. Sie ist eine Symbiose aus (Notfall- bzw. extraklinischer) Medizin, Gesundheitswissenschaften und öffentlicher Sicherheit. Sie beinhaltet aber auch rettungsdienstspezifische Erkenntnisse aus anderen Fachgebieten wie beispielsweise Psychologie, Soziologie, Technik, Einsatztaktik, Erwachsenenbildung, Kommunikation oder Versorgungsforschung. Weiterhin sind die Retter*innen nicht nur Subjekt sondern auch Objekt der Rettungswissenschaften.
Die Notwendigkeit für eine eigene wissenschaftliche Fachdisziplin ergibt sich aus der weltweiten Professionalisierung und Emanzipation der Berufsbilder. Andere wissenschaftliche Disziplinen haben rettungsdienstliche oder rettungswissenschaftliche Aspekte bisher nur eingeschränkt und mit einer sehr speziellen Perspektive untersucht. Die Rettungswissenschaften sollen diese Erkenntnisse nun zusammenführen, um sie schneller und breiter in die praktische notfallsanitätliche Tätigkeit integrieren zu können.“

Zudem werden viele forschungswürdige Fragen aus dem Rettungsdienst nicht beantwortet, da sie Ärztinnen und Ärzte nicht oder zu wenig tangieren. Hier braucht es eine Rettungswissenschaft, welche Antworten auf diese Fragen liefert und somit die Patient:innensicherheit in der rettungsdienstlichen Versorgung erhöht.

Aktuell sind engagierte Sanitäter:innen auf internationale Kursformate und Studium in Eigenregie angewiesen, wofür sie mit ihrem tendenziell geringen Gehalt selbst aufkommen müssen. Als Trägerorganisation einiger dieser internationalen Kursformate wissen wir, dass die Nachfrage dafür riesig ist.

Daher fordern wir dringend eine Reformierung und Neugestaltung der präklinischen Notfallversorgung. Vorrangig durch die

  • Schaffung einer akademischen Ausbildung im Sinne eines außerordentlichen Bachelor Professional (B.Pr.), sowie eines ordentlichen Bachelor of Science (B.Sc.) in Rettungswissenschaften
  • Etablierung organisationsunabhängiger und österreichweiter Ausbildungsinstitutionen
  • Duale Ausbildung bestehend aus theoretischem Fachwissen, klinischer- und präklinischer Praxis auf Basis des nationalen Qualifikationsrahmens
  • Ausbildung auf Basis evidenzbasierter Standards nach internationalem Vorbild
  • Anwendung innovativer didaktischer Methoden, wie Simulationstrainings, Blended-Learning, Kompetenzfeldentwicklung, Professionelle Entwicklung, etc.
  • Anerkennung von Sanitäter:innen als Gesundheitsberuf und entsprechende Aufnahme in das Gesundheitsberuferegister
  • Durchlässigkeit hin zu anderen Gesundheitsberufen und Arbeitsbereichen
  • Schaffung von Berufspfaden und Entwicklungsmöglichkeiten als Sanitäter:in
  • Schaffung einer einheitlichen gewerkschaftlichen Standesvertretung
  • Bereitstellung von Mitteln zur Forschung in den Bereichen Versorgung, Qualität und Weiterentwicklung im Rettungsdienst
  • Förderung und gezielter Einsatz von Ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen in den Bereichen “First-Responder“, Katastrophendienst, Ambulanzdienst, sowie Krankentransportdienst und assistierende Tätigkeiten im Notfallrettungsdienst.

Wir bitten Sie, sich diesen Problemen mit der angebrachten Aufmerksamkeit zu widmen, um den österreichischen Rettungsdienst aus der Schlusslichtposition Europas hin zu einem zukunftsorientierten, modernen und integralen Teil des Gesundheitsbereiches zu führen!

Der Vorstand des BVRD..at